Sie lief die lange, schmale Gasse entlang, ihre dürftige Beute fest an den Körper gepresst. Während sie ihre kleinen Schritte beschleunigte, schaute sie immer wieder nervös über ihre Schulter zurück.
Sie bog in eine weitere kleine Gasse ab und verschwand schließlich hinter einer alten, rostigen Tür.
Die Straßen von Nimm waren zu dieser Jahreszeit sehr unsicher. Im Frühling kamen all die Diebe aus dem ganzen Land an diesem Ort zusammen, um sich auf eine neue “Jagdsaison” vorzubereiten. Das, was sie taten als jagen zu bezeichnen, war an sich sehr schmeichelhaft, denn in Wahrheit beraubten sie alles und jeden, den sie auf ihren Reisen durch das Land begegneten.
Nimm war ihre Stadt, die Stadt der Diebe. Hier beklaute jeder jeden und keiner dachte sich etwas dabei.
Auch ihre Mutter war eine von ihnen. Eine Junge Elfin, die ihr Handwerk sehr gut verstand, doch auch sie war nur ein Wesen dieser Welt und wurde eines Tages schwach. Diese Schwäche war der Grund ihrer Existenz. Sie hasste ihre Mutter dafür, für die Tatsache, dass sie nicht mehr war als ein Unfall, das Ergebnis eines schwachen Momentes.
Sie bekam es auch immer wieder von ihr zu spüren. Eine Belastung, das war und ist sie immer noch.
An sich war es doch nur eine Erleichterung für beide Parteien, als ihre Mutter sie hier zurückließ. Ohne Zweifel war es unverantwortlich ein so kleines Mädchen in gerade solch einer Stadt alleine zu lassen, doch wäre es ihr in einer anderen Stadt anders ergangen?
Sie war eine Missgeburt, ein Mix aus zwei Spezien. Wo würde sie nicht am ehesten akzeptiert werden als hier. Einem Ort, wo jeder einzelne auf seine Art verrucht und widerlich war.

Sie hörte schnelle Schritte vor der Tür und zog sich verängstigt unter einen alten, hölzernen Tisch zurück. Hatten sie sie wirklich so schnell gefunden?
Und das alles nur wegen eines kleinen Beutels.
Sie wusste nicht einmal, was drin war, sie hatte nur ein paar alte Männer sagen hören, dass es sehr wertvoll sein sollte.
Wenn es stimmte, was sie sagten, dann würde sie wieder ein paar Monate überleben können. In der großen Tauschhalle am Rande der Stadt konnte man fast alles gegen Geld eintauschen, aber wenn man etwas Wertvolles brachte, dann hatte man die Garantie, dass man genug bekam, um davon viel Essen und Trinken zu kaufen.

Es wurde wieder still draussen auf der Straße.
Erleichtert atmete sie auf. Endlich lockerte sie ihren Griff um das Säckchen, das sie die ganze Zeit fieberhaft an sich gedrückt hatte.
Was mochte da nur so Wertvolles drin sein, wenn es den Dieben ausnahmsweise nicht mal egal war, dass sie bestohlen wurden? Diamanten? Edelsteine? Ein wertvolles Medalion?
Behutsam löste sie das schmierige Band, das das Säckchen verschlossen gehalten hatte und lugte vorsichtig hinein.
Sie sah nichts blitzen oder blinken, nichts funkeln oder ähnliches. Sie sah gar nichts. Vorsichtig griff sie in den Beutel und versuchte den Inhalt zu ertasten, doch sie spürte nichts ausser Sand oder irgendetwas in der Art.
Das war es also. All die Mühe umsonst! Wie sollte sie nun überleben können? Mit ein bisschen Pulver konnte sie wohl kaum ein Stück Brot bezahlen.
Sie verstaute das Säckchen in ihrer verschleisten Tasche, die ihre einzige Erinnerung an ihre Mutter war, stand auf und klopfte sich den Dreck von ihren Kleidern.
Sie musste etwas finden, mit dem sie sich etwas zu Essen kaufen konnte.
Leise öffnete sie die verrostete Tür und verschwand in den Schatten der kleinen, dunklen Gasse…

***

Lustlos zog sie ihre alte lederne Tasche hinter sich her. Sie war verdammt schwer.
Der letzte Auftrag hatte ihr eine vernünftige Summe an Geld eingebracht, die sie auch weitesgehend gleich in Lebensmittel umgesetzt hatte. Immerhin war es eine Drei-Tages-Reise bis Ara, da würde sie ein bisschen brauchen, um zu überleben.
Bei so einer längeren Reise hatte man nie die Garantie, dass man an einem Bach vorbeikam, oder dass man irgendwo auf irgendwelche Kleintiere stossen würde, die man sich zubereiten konnte.
Sie war nun schon seit Stunden unterwegs und entschied, dass es an der Zeit war, eine kleine Pause zu machen. Sie suchte sich eine kleine ruhige Waldlichtung, ließ ihre Tasche fallen und setzte sich an einen alten, morschen Baum. Müde lehnte sie sich gegen ihn und schloss ihre Augen, während sie orientierungslos nach dem Verschluss ihrer Tasche tastete.
Ihr Magen knurrte unnatürlich laut. Sie musste unbedingt etwas essen.
Endlich spürten sie den kleinen silbernen Knopf und öffnete ihn irgendwie.
Sie holte etwas Brot aus ihrer Tasche hervor und brach sich ein Stück ab. Sie musste sparsam sein. Sie hatte zwar Einiges eingekauft, aber wenn sie so oft wie heute was essen würde, dann hätte sie in zwei Tagen nichts mehr.
Während ihres Auftrages in Nahan ist sie kaum dazu gekommen irgendetwas zu sich zu nehmen. Das machte sich jetzt bemerkbar.
Plötzlich gab es einen lauten Platscher direkt neben ihrem linken Ohr. Verwirrt blickte sie auf ihre Schulter.
“Verdammt, das fehlte mir jetzt gerade noch”, wütend kramte sie nach einem Tuch in ihrer Tasche. Ein Vogel hatte von einem Baum aus direkt auf ihre Schulter sein Geschäft verrichtet.
“Das passiert, wenn man unaufmerksam in einem Wald wie diesem ist”, hörte sie eine amüsierte Stimme hinter sich.
Sie drehte sich ruckartig um und blickte empor. Vor ihr stand ein junger, gutaussehender Mann, mit ebenso langen und spitzen Ohren wie sie.
“Ach, halt die Klappe”, beleidigt wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Schulter zu, “wer bist du überhaupt, dass Du meinst mich einfach so ansprechen zu müssen?”
Das letzte murmelte sie nur so grimmig vor sich hin, doch er hatte es gehört.
Er sah zu ihr hinunter und musste ein wenig schmunzeln.
“Sei ehrlich, das interessiert dich doch kein bisschen.”
“In der Tat, es hat dich nämlich niemand hier um Deine Meinung gebeten.”
Sie beschäftigte sich noch immer eingehend mit ihrer Schulter, doch nun ging sie dazu über sich wieder auf ihr Brot zu konzentrieren und sah dabei angestrengt nach unten, in der Hoffnung, dass er ihren grimmigen Blick nicht weiter beobachtete.
Sie wusste, dass sie wieder einmal mehr als übertrieben reagierte, doch nun hatte sie so dieses Gespräch angefangen, also würde sie es jetzt auch weiter durchziehen.
“Pah”, murmelte sie leise vor sich hin, “so ein Idiot”.
“Idiot vielleicht”, lachend ließ er sich neben ihr nieder, “aber nicht schwerhörig, meine Liebe, also warum sagst du mir nicht einfach direkt ins Gesicht, was du über mich denkst?”
Jetzt war sie wirklich wütend. So etwas Dreistes hatte sie noch nie in ihrem kurzen Leben erlebt. Das war echt die Höhe.
Genervt blickte sie ihm nun direkt ins Gesicht.
“Ok, Mister Neunmalklug, wenn sie es gerne so möchten!”
Sie stand ruckartig auf und ließ ihren Blick einige Sekunden ohne jeglicher Worte auf ihm ruhen, dann sagte sie:
“Pass genau auf! Ich sitze hier, weil ich ein paar anstrengende Tage hinter mir habe und mir nun mein wohlverdientes Stück Brot gönnen möchte. Vor allem sitze ich hier mitten im Wald an einer ruhigen Lichtung, weil ich eben gerade diese Ruhe haben will und nicht darauf aus war, mich hier mit einem dreisten, jungen und gutaussehenden Mann darüber zu unterhalten, was richtig ist und was nicht!”
Sie holte tief Luft.
“Und nun lass mich endlich mein verdammtes Brot essen!”
“Gutaussehend?”, fragte er und musterte sie dabei offensichtlich amüsiert.
Sie schlug sich die Hand vor den Mund und schaute dabei sehr erschrocken.
Er hörte sie darunter nuscheln: “Hab ich das etwa laut gesagt?”
Sie griff schnell nach ihrer Tasche und rannte davon, tief in den Wald.
“Hey, warte, nicht da lang, dort ist….”, doch zu mehr kam er nicht, denn sie war schon längst ausser Hörweite.

Sie lief und lief und blieb keine Sekunde lang stehen. Sie hatte das Tatsache laut gesagt, wie peinlich. Was würde der jetzt von ihr denken.
Ganz in Gedanken versunken und verbissen darauf konzentriert, dass sie den Abstand zwischen sich und diesem Kerl auch ja immer mehr vergrößerte, merkte sie nicht, wie sich die Umgebung um sie herum immer mehr veränderte.
Sie war extrem wütend. Wütend auf diesen Idioten und vor allem wütend auf sich sich selber, weil sie sich so schnell hatte provozieren lassen und dabei wollte er ihr nicht mal irgendetwas Böses.
Es war wahrscheinlich seine gute Laune, die ihn für sie so unerträglich gemacht hatte.
Sie kam aus der Puste und blieb endlich stehen. Sie musste eine ganze halbe Stunde durchgehend gerannt sein. Sie stütze sich auf ihren Knien ab und schnappte nach Luft. Dabei schaute sie an ihren Beinen vorbei hinter sich, doch wie es aussah, hatte er sie nicht weiter verfolgt. Kein wunder, so unfreundlich, wie sie zu ihm gewesen war, aber so war sie nun mal.
Zum ersten Mal viel ihr auf, dass etwas nicht stimmte.
Sie richtete sich wieder auf und legte ihre Tasche auf das feuchte Gras.
Etwas war anders. Sie konnte nicht mehr so viel frisches Grün entdecken, wie eben auf der Lichtung. Alles wirkte viel düsterer und beunruhigender auf sie.
Sie hörte ein leises Knacken hinter sich, kaum hörbar, doch laut genug für ihre Ohren. Etwas eingeschüchtert griff sie nach ihrer Tasche, bekam sie aber nicht zu fassen.
Wieder ein Knacken, nur diesmal schon etwas näher.
Sie fixierte ihren Blick auf die Stelle, wo sie eben das Knacken gehört hatte. Ließ sie nicht aus den Augen, für denn Fall, dass plötzlich etwas hervorspringen und sie angreifen würde.
Sehr schlau kann dieses Etwas aber nicht sein, dachte sie, so laut wie das ist, wird es sich wohl kaum unbemerkbar heranschleichen können.
Es raschelte.
Sie ließ ihre Tasche wo sie war und ballte ihre Hand zu einer Faust. Sie begann leicht zu zischen und ein lauer Windhauch streifte sie.
Von Sekunde zu Sekunde wurde der Wind immer intensiver und begann sich um ihre Hand herum zu bündeln.
Sie war bereit, sollte das Viech doch kommen.
Doch sie hörte nichts mehr, es war absolut still um sie herum. Die Spannung in ihr machte sie fast verrückt.
Sie starrte immer noch angestrengt auf die Stelle, doch nichts passierte.
Erleichtert atmete sie aus. Vielleicht war es doch nur ein Eichhörnchen oder so gewesen, wer weiß. Sie entspannte sie wieder und wollte nach ihrer Tasche greifen, als plötzlich ein Schatten aus dem Gebüsch auf sie zu gesprungen kam. Sofort ballte sie wieder ihre Faust, richtete sie in seine Richtung und ließ einen kräftigen Windstoß auf die Gestalt schießen.
“Verdammt”, hörte sie eine vertraute Stimme stöhnen, “verdammt!”
“Oh, shit”, jetzt erkannte sie in der Stimme den jungen Mann von vorhin wieder und stürzte zu ihm “es tut mir leid, hab ich Dir weh getan? Du hast mich zu Tode erschrocken!”
Sie kniete sich neben ihm nieder.
“Weh getan?”, er lachte schwach, ” mit dem kleinen Windstoß?” Er schaute ihr jetzt direkt in die Augen.
“Mit dem bisschen Luft kannst du nicht mal eine Fliege erschrecken”, er lächelte sie an und irgendwie musste auch sie ein bisschen lächeln.
“Du bist ein Idiot”, sagte sie und half ihm beim aufstehen.
“Soweit ich weiß, waren wir vorhin schon so weit.”
Nun musste sie wirklich lachen und hatte dabei Tränen in den Augen.
“Hey, Kleine, nicht weinen, es ist doch alles heil geblieben”, er tätschelte liebevoll ihren Kopf.
“Aber ich hätte dich ernsthaft verletzen können”, beschämt schaute sie auf das Gras hinab, ” hättest du mich nicht so erschrocken, dann wäre der Zauber wahrscheinlich viel stärker gewesen!”
“Aber er war es nicht, also hast du mir nur einen leichten Schubs verpasst. Beruhig dich wieder, Kleine.”
Dankbar sah sie ihn nun an.
“Warum bist du hier”, fragte sie, “warum bist du mir gefolgt?”
“Du bist witzig! Läufst direkt ins Verderben und erwartest von mir, dass ich einfach zu schaue und Tee trinke?”
“Ins Verderben, aber wieso…”,verwirrt sah sie ihn an.
“Hast Du dich mal richtig umgesehen?”, er deutete auf eine besonders düstere Stelle im Wald, “hast du überhaupt eine Ahnung, wie gefährlich es in diesem Teil des Waldes ist?”
Sie sah ihn mit großen Augen an: “Gefährlich? Aber warum das denn? Denkst du etwa, ich bin nicht in der Lage, mich gegen ein paar wilde Tiere zu verteidigen?” Sie musste lachen. Sie fühlte sich schon wieder leicht provoziert, versuchte sich aber diesmal zu beherrschen.
“Du bist nicht aus dieser Gegend, oder?”
“Nein, ich komme aus Nimm”, sagte sie entschlossen.
“Aus Nimm?”, er sah sie erstaunt an und legte seine Stirn in Falten, “kann ich mir bei so einer zierlichen kleinen Gestalt wie dir gar nicht vorstellen.”
Sie holte empört Luft und wollte gerade so richtig loslegen, als er ihr ins Wort viel.
“Moment, ruhig, Kleine, nur weil ich sage, dass ich es mir nicht vorstellen kann, heißt das noch lange nicht, dass ich dir nicht glaube. Ich finde es nur etwas verwunderlich jemanden aus Nimm hier in den Wäldern von Naarem anzutreffen.”
“Es ist halt so, find’ dich damit ab”, gereizt griff sie wieder nach ihrer Tasche und stampfte davon, “und wehe du folgst mir wieder.”
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen verschwand sie in den tiefen Schatten der düsteren Lichtung, die er ihr vor ein paar Minuten noch gezeigt hatte.
“Dem wird ich’s zeigen”, sie war extrem geladen, ” Kleine, pah, der soll mich noch mal Kleine nennen, dann kann der was erleben.”
Er stand wie angewurzelt auf der Stelle und blickte ihr mit verdutzten, großen Augen hinterher.
“Verrücktes kleines Ding”, murmelte er und lief ihr hinterher.

Sie hatte sich auf einem mit Moos bewachsenen Stein niedergelassen, völlig irritiert und traurig. Warum hielten sie alle, die sie in ihrem Leben getroffen hatte, für ein hilfloses, kleines, mageres Ding? Warum wurde sie von allen so sehr unterschätzt.
Sicher, sie war nicht gerade sehr groß und sah auch nicht besonders kräftig aus, aber sie hatte trotz ihrer aufmümpfigen Art ein großes Herz und es steckte viel Kraft in ihr.
Ihr war bewusst, dass man es ihr nicht unbedingt ansah, aber in so einem Land sollte man von Natur aus niemanden, aber wirklich niemanden unterschätzen.
Sie dachte an den jungen Elfen von vorhin und musste leicht schmunzeln. Zumindest ging sie davon aus, dass er einer war. Er hatte was, sie konnte nicht genau sagen was, aber er würde mit Sicherheit einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen.
Aber sie sollte aufhören sich ständig Gedanken über etwas zu machen, was sie in Wirklichkeit gar nicht interessierte. Das redete sie sich jedenfalls ein.
Jetzt, wo sie hier irgendwo in einem Wald festsaß, den sie nicht mal ansatzweise kannte, musste sie sich überlegen, wie sie hier am Besten wieder rauskam und den kürzesten Weg nach Ara finden sollte.
Sie hatte unüberlegt gehandelt, als sie einfach abgehauen war. Sie hätte einfach ihre geplante Route weiter marschieren sollen, anstatt einfach kopflos irgendeine Richtung einzuschlagen.
“Ach, verdammt”, rief sie in den Wald und schlug sich dabei mit der Faust auf ihr Knie. Sie lauschte, wie ihre Worte leise durch den sonst ruhigen Wald hallten.
Erst jetzt viel ihr auf, wie still es wirklich war.
Wieder musste sie an die Situation von vorhin denken. Ob er sie wieder einfach so überraschen würde? So ein Unsinn, sie hatte ihm eindeutig klar gemacht, dass sie alleine sein wollte.
“So ein Idiot!”
Zu dem Zeitpunkt wusste sie noch nicht, dass sie ihn schneller wieder sehen würde, als ihr lieb war, denn plötzlich riss etwas heftig an ihrem Rock und zerrte sie durch die Büsche und knurrte dabei unaufhörlich.
Während sie über den Boden schliff, flogen ihr ständig Sabbertropfen ins Gesicht. Sie wollte schreien, doch das alles passierte so plötzlich, dass aus Überraschung kein einziger Ton ihrer Kehle entrang. Verzweifelt versuchte sie sich immer wieder an irgendwelchen Büschen oder Grashalmen festzuhalten, oder ihre Finger in die Erde zu rammen, doch alles entglitt ihr immer wieder.
Sie war auch nicht in der Lage ihre magischen Kräfte zu aktivieren, denn dazu musste sie wenigstens eine Sekunde Ruhe haben, doch dieser Umstand machte es ihr unmöglich.
“Jetzt hatte dieser Vollidiot doch Tatsache recht”, brüllte sie völlig ausser Atem. Aber sie würde nicht um Hilfe schreien, nein, das würde sie ihm nicht gönnen. Sie war stark, sie konnte sich ganz alleine retten. Sie brauchte dafür nicht irgend so einen dahergelaufen Kerl, der ihr versucht hatte Angst zu machen.
Sie versuchte ihren Kopf anzuheben, um zu erkennen, was genau sie da jetzt eigentlich quer durch den Wald zerrte. Das Einzige, was sie jedoch erkennen konnte, war braunes, verschmutztes Fell. Das Viech musste riesengroß sein und unheimlich stark.
Sie hörte ein kurzes Jaulen von vorne und merkte, wie das Wesen eine Sekunde schwankte und dann weiter sprintete. Wieder versuchte sie irgendetwas zu fassen zu bekommen und merkte plötzlich, wie etwas Warmes ihre Hand umschlang und sie festhielt.
Das Monster vor ihr wurde gegen einen Baum geschleudert, jaulte laut auf und verschwand dann im Wald.
Sie lag nun schwer atmend, mit stetig gehobenen und gesenkten Brustkorb im Gras und schloss die Augen.
Dann riss sie sie auf einmal panisch auf und stellte sich ruckartig hin. Irgendetwas hatte das Wesen angegriffen und sie aus seinen Klauen befreit und dieses Etwas musste sehr stark gewesen sein, sonst würde sie sich jetzt noch irgendwo über einen Waldweg schleifen sehen. Vielleicht wollte dieses andere Wesen dem haarigen Monster nur seine Beute abjagen, um diese selber zu fressen. Sie ballte ihre Faust, doch lockerte sie diese schnell wieder, als sie das Wesen sah.
“Du”, rief sie empört, ” verdammt, verfolgst du mich denn überall hin?”
Der junge Elf sah sie verärgert an: “So dankst du also deinem Retter, ja? Dann bleib doch wo der Pfeffer wächst und lass mich in Ruhe.”
Er drehte sich um und ging wütend davon. Völlig verstimmt brüllte er noch weiter vor sich hin: “Da rennt man hinter ihr her, um sie zu beschützen und was erntet man als Dank? Sowas von undankbar. Das habe ich wirklich noch nie erlebt. Als ob ich es nötig hätte mich mit so einem kleinen Ding abzugeben…”
Sie sah ihm ziemlich verdutzt hinter her. Sie war wirklich überrascht. Mit so einer Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte ein verdammt schlechtes Gewissen.
“Nein, halt, warte”, rief sie und rannte mit ausgestrecktem Arm hinter ihm her, “es tut mir leid. Ich hatte Angst, ich hatte mich erschrocken, ich musste mich abreagieren. Nun bleib doch endlich stehen!”
Er hielt in seinen Schritten inne, drehte sich aber nicht um.
“Bitte”, verzweifelt blickte sie auf seine breiten Schultern. Erst jetzt bemerkte sie, wie kräftig gebaut er war.
Er stand vor ihr und sagte kein Ton, immer noch mit dem Rücken zu ihr gewandt.
Endlich machte er Anzeichen, dass er sich umdrehen wollte, doch er fragte sie nur leise: “Wirst du wieder wegrennen, wenn ich bei dir bleibe?”
“Nein”, auf ihrem Gesicht ließ sich ein kleiner Hoffnungsschimmer erkennen, “ich werde nicht wieder wegrennen.”
“Versprochen?”
“Versprochen!”
“Na also, geht doch”, endlich drehte er sich um und lächelte sie liebevoll an.
“Aber eines musst du mir versprechen”, erwiderte sie zaghaft.
Er hob fragend die Augenbrauen.
“Sag nie wieder Kleine zu mir”, sie grinste breit, “mein Name ist Tháleia!”

***

Sie liefen eine Weile schweigsam neben einander durch den Wald. Er hatte ihr die schwere Tasche abgenommen, die er locker über die Schulter zu hängen hatte.
Seit sie die düstere Lichtung verlassen hatten, hatten sie kein Wort mehr gewechselt.
Tháleia schaute die ganze Zeit schüchtern am Boden entlang, während er andauernd kritisch die Umgebung musterte und den Stimmen des Waldes lauschte.
Als sie endlich die Grenze zwischen dem düsteren zu dem hellen Teil überschritten, hielt sie es doch langsam für nötig, ein Gespräch anzufangen.
Sie schaute zu ihm hoch und fragte leise: “Bist du ein Elf?”
“Hm?”, er löste seinen Blick von einem Busch ,den er gerade gemustert hatte und wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu.
“Ob du ein Elf bist”, sagte sie nun etwas lauter.
“Denkst du denn, dass ich einer bin”, erwiderte er mit einem ernsten Gesichtsausdruck.
“Ich vermute ja.”
“Dann werde ich wohl auch einer sein”, nun schenkte er ihr wieder so ein scharmantes Lächeln, wie er es vorher schon öfters getan hatte, “genau wie du.”
“Ja, das bin ich wohl”, sie senkte ihren Blick wieder.
“Was ist denn? Habe ich etwas Falsches gesagt?”
“Nein, schon gut”, sie spielte nervös an ihren Fingern rum, “alles in Ordnung.”
Er musterte sie eingehend von der Seite.
“Komm schon, meinst du nicht, du solltest langsam anfangen mir zu vertrauen?”
“Ja, sicher, aber…”
Er blieb stehen und schaute sie durchdringend an: “Tháleia!”
“Du wirst nichts mehr mit mir zu tun haben wollen”, sagte sie und löste ihren Blick dabei nicht von ihren Fingern. Eine kleine Träne löste sich aus einem ihrer Augen. Sie schniefte leise.
Er trat auf sie zu und packte sie an ihren Schultern.
“Erzähl es mir!”
Sie drehte sich zu ihn um und schaute ihm direkt in die Augen.
“Ich bin eine Elfe. Zum Teil zumindest.”
“Was soll das heissen?”
“Nun, meine Mutter war eine”, sie lief auf eine große alte Eiche zu und ließ sich neben ihr nieder. Er folgte ihr, legte die Tasche behutsam ab und setze sich neben sie.
Sie rupfte ein paar Grashalme heraus, während sie weiter sprach: “Mein Vater war ein Mensch. Sie trafen damals im Gebiet der Nach aufeinander, in einer der kleine, alten Gaststätten, die es dort gibt.”
“Keine sehr schöne Gegend”, sagte er.
“Wirklich nicht”, erwiderte sie leise, “jedenfalls lernten sie sich dort kennen und verbrachten die Nacht miteinander. Mein Vater ein Verstoßener von Naarem und musste daher einen interessanten Eindruck auf meine Mutter gemacht haben. Sie war eine Diebin aus Nimm, musst Du wissen.”
Sie atmete tief durch und erzählte dann weiter: “Es blieb für sie auch bei dieser einen Nacht, doch die hatte ausgereicht. In dieser Nacht wurde ich gezeugt, etwas, womit meine Mutter nicht gerechnet hatte. So bald ich alt genug war um alleine zu laufen und zu sprechen, setzte sie mich in Nimm ab und verschwand spurlos. Ich war damals vier Jahre alt. Seit dem bin ich hier alleine unterwegs.”
Er schwieg nachdenklich. Sie warf ihm von der Seite einen zögernden Blick zu.
“Ich bin eine Missgeburt, etwas, was gar nicht sein dürfte. Halb Mensch, halb Elfe, wo gibt es so etwas sonst noch?”
Er sagte immer noch nichts.
“Ich sagte es dir doch”, sie setzte ihre nervösen Spielereien mit ihren Fingern fort und wickelte die ausgerissenen Grashalme um sie, “keiner möchte etwas mit so einem Mischling wie mir zu tun haben.”
Sie machte Anstalten aufzustehen, doch er hielt sie am Arm fest: “Ich denke, du schätzt mich völlig falsch ein, meine Liebe!”
Er sah ernst auf sie herunter.
“Hälst du mich wirklich für so oberflächlich?”
Sie ließ sich wieder neben im sinken und begann zu schluchzen. “Nein”, sagte sie traurig.
“Na siehst du”, er legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich heran, “zeig mir die, die dir deine Abstammung zur Schande gemacht haben und ich werde sie mir vorknöpfen.”
Sie lachte leise: “Du bist verrückt.”
Sie ließ den Kopf hängen und war sich nicht sicher, ob sie weinen oder lachen musste.
Sie war sehr erleichtert, dass sie das alles endlich mal hemmungslos rauslassen könnte. Vor allem ihre Ängste, die ihre Abstammung betrafen.
Während ihr die Tränen die geröteten Wangen entlangliefen, vergrub sie ihr Gesicht in seinem Hemd und ließ alle ihre Gefühle raus.
Er ließ es ohne ein Wort zu und streichelte ihr über die Haare.
Nach ein paar Minuten kam kein Ton mehr von ihr und er vermutete, dass sie eingeschlafen war.
Er ließ sein Blicke über die Umgebung schweifen, lehnte seine Kopf gegen den Baumstamm und schloss ebenfalls die Augen.

Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich alleine, mit dem Kopf auf ihrer Tasche, mitten auf einer Lichtung wieder.
Leise stöhnend richtete sie sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Langsam aber sicher kamen die Erinnerungen wieder. Sie hatte es ihm erzählt und er hatte sie nicht von sich geschoben. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr so etwas jemals in ihrem Leben passieren würde.
Sie mustere die kleine, von der Nachmittagssonne erhellten Lichtung und stellte fest, dass sie alleine war.
Er war doch gegangen und hatte sie ihr zurückgelassen. Sie hätte es wissen müssen, doch immerhin hatte sie sich für einen kurzen Moment akzeptiert fühlen dürfen. Sie erhob sich vom Boden und griff nach ihrer Tasche.
Jetzt, wo er sie wieder in den sicheren Teil des Waldes gebracht hatte, würde sie den Weg auch alleine nach Ara finden.
Sie schaute sich um und entschied sich für einen schmalen Weg, an dessen Rand ein paar Vergissmeinnicht standen und schländerte los, die Tasche wieder über den Boden schleifend.
Beim gehen bückte sie sich nach einer der kleinen blauen Blumen ,pflückte sich eine ab und steckte sie sich ins Haar.
“Ich wird’ dich nicht vergessen”, sagte sie leise mit einem Lächeln und setzte ihren Weg fort.

…Fortsetzung folgt… ?

©Sarah Jakobeit 2004

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1 Kommentar

  1. Mandy says:

    Muss gestehen nicht alles gelesen zu haben, weil ich lesen vom Bildschirm immer so anstrengend finde (gerade jetzt *heul*), aber zu dem, was ich bis jetzt gelesen habe kann ich sagen, dass mir sowohl der Stil als auch die Story gefällt.
    Fein demacht! ^^

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