Lieber Okti,
ich weiß, es ist noch nicht lange her, dass ich Dir geschrieben habe, aber ich bin noch so durcheinander, ich musste Dir einfach noch einen Brief schicken.
Kennst Du dieses Gefühl am Morgen aufzuwachen und noch Tränen in den Augenwinkeln vorzufinden? Sie sind noch relativ frisch und während Du sie Dir aus den Augen reibst überlegst Du, warum Du im Schlaf geweint hast. Heute bin ich so aufgewacht und leider kann ich mich nur allzu gut daran erinnern.
Es war dunkel. Am Anfang dachte ich noch, ich wäre in einem “Alice im Wunderland” – Traum gelandet, weil der Boden so schön gemustert war, aber irgendwie war die Atmosphäre sehr drückend und beängstigend. Mein Herz fühlte sich an, als ob es jemand in der Hand gehalten und zugedrückt hätte. So ein beklemmendes Gefühl. Kennst Du das, Onkel Okti?
Ich irrte also durch die Dunkelheit, in der Hoffnung irgendwie einen Weg hier raus und in das Licht zu finden, als ich in der Ferne ein kleines Leuchten sah und darauf zu ging. Ein leises Knurren und Rauhnen war zu hören und ich bewegte mich immer langsamer, unsicherer. Letztendlich entschied ich mich gegen das Leuchten und wollte schnell umkehren, als das Knurren plötzlich direkt hinter mir war. Ruckartig drehte ich mich um und schaute in die aufgerissenen Mäuler gigantisch großer Zahlen. Schreiend und weinend rannte ich wieder in Richtung Leuchten, so schnell mich meine kurzen Stummeltentakel trugen, aber irgendwie waren die Zahlen immer schneller…
Du musst wissen, Onkel Okti, damals, als ich noch in die Schule gegangen bin, da hatte ich Angst vor Zahlen. Oder eher gesagt vor dem Matheunterricht. Ich hatte eine Lehrerin, die immer wild durch die Klasse geschrien und mit kleinen Magnetzahlen nach uns geworfen hat, wenn man nicht die richtige Antwort kannte.
Am Ende bin ich aufgewacht, weinend, verzweifelt, aber auch erleichtert, dass es nur ein Traum war. Nun werde ich wohl die Kissen beziehen müssen, denn so voller Salz von den Tränen, wie sie jetzt sind, kann ich sie wohl kaum lassen.
Ich wünsche Dir angenehme und schöne Träume, lieber Okti,
Deine Shu-Shu